Einerseits ist die Lage des Bogen-Schwerpunktes eine statische Rahmenbedingung der Stabilisation - denn sie ist zunächst einmal konstant und lässt sich ausschließlich durch die Anordnung der Stabilisation beeinflussen. Andererseits verändert sich die Schwerpunktlage des Bogens durch das Auslenken der Wurfarme und sie wirkt sie sich auch auf dynamische Vorgänge aus.
Die Lage des Schwerpunktes stellt daher einen besonderen Fall dar und bildet das Brückenglied zwischen den grundlegenden statischen Rahmenbedingungen und den rein dynamischen Vorgängen vor, während und nach der Schussabgabe.
Vereinfachend kann der Schwerpunkt eines Körpers als derjenige Punkt angesehen werden, in dem sich die gesamte Masse dieses Körpers "sammelt". Wird ein Körper in seinem Schwerpunkt aufgehangen dreht er sich nicht. Wird ein Körper abseits seines Schwerpunktes aufgehangen, dreht er sich (auf Grund der Schwerkraft) so lange, bis sich sein Schwerpunkt unterhalb seiner Aufhängung befindet.
Je größer die Masse des Körpers und je größer der horizontale Abstand zwischen Aufhängung und Schwerpunkt sind, desto stärker ist die Drehwirkung auf den Körper. Eine geringe Masse nah am Drehpunkt führt zu einer kleinen Drehwirkung. Eine große Masse weit entfernt vom Drehpunkt führt zu einer großen Drehwirkung.
Neben der Schwerkraft können auch noch andere Einzelkräfte auf einen Körper wirken. Jede beliebige Kraft, die an einem Körper angreift, führt zu einer...
... reinen Verschiebung, wenn die Kraft exakt in Richtung des Schwerpunktes wirkt
... Kombination aus Verschiebung und Drehung, wenn die Kraft am Schwerpunktes vorbei wirkt
Diese zunächst allgemein beschriebenen Effekte lassen sich direkt auf das Bogenschießen übertragen, denn die Lage des Bogen-Schwerpunktes beeinflusst das Tuning und ggf. auch die Trefferlage.
Da sich der Schwerpunkt eines Körpers auf Grund der Schwerkraft immer genau unterhalb seiner Aufhängung einpendelt, kann seine Lage über zwei unterschiedliche Aufhängungen ermittelt werden. Am Bogen bieten sich dazu eine Wurfarmspitze und die Spitze des Monostabilisators an.
Der Schwerpunkt befindet sich genau am Schnittpunkt der beiden (gedachten) senkrechten Linien, die sich aus den zwei unterschiedlichen Aufhängungen ergeben.
Im ausgezogenen Zustand verlagert sich dieser Schwerpunkt leicht in Richtung des Schützen, da sich die Wurfarme in diese Richtung biegen. Die dadurch erzeugte Verlagerung des Schwerpunktes ist jedoch klein und daher praktisch unbedeutend.
Bestimmung der Schwerpunktlage des Bogens
Eine geschlossene Bogenhand (= Festhalten des Bogens) entspricht aus mechanischer Sicht einer festen Einspannung, d.h. zwischen Bogenhand und Bogen gibt es eine feste Verbindung. Alle Kräfte (auch die Schwerkraft) die auf die starren Teile des Bogens (Mittelstück, Visier, Stabilisation) wirken, werden über diese feste Verbindung vollständig vom Schützen aufgenommen. Die flexiblen Teile des Bogens (Wurfarme, Sehne) werden daher auch nicht von derartigen Kräften beeinflusst/verformt. Bei einer geschlossenen Bogenhand gibt es keinen Einfluss des Bogen-Schwerpunktes auf den (dynamischen) Tiller.
Eine offene Bogenhand (= Abstützen des Bogens) entspricht aus mechanischer Sicht einer Lagerung, die bestimmte Bewegungen (bewusst) zulässt, d.h. zwischen Bogenhand und Bogen gibt es keine vollständig feste Verbindung. Alle Kräfte (auch die Schwerkraft) die auf die starren Teile des Bogens (Mittelstück, Visier, Stabilisation, ...) wirken, können sich daher auch auf die flexiblen Teile des Bogens (Wurfarme, Sehne) auswirken und diese verformen. Bei einer offenen Bogenhand gibt es einen Einfluss des Bogen-Schwerpunktes auf den (dynamischen) Tiller.
Tipp
Die Vorgänge, die sich bei offener/geschlossen Bogenhand im Bogen ergeben, können sehr einfach durch drei Personen sichtbar gemacht werden: Schütze, Helfer und Beobachter.
Der Beobachter befindet sich (seitlich) ca. 3 Meter vom Schützen entfernt. Er verfolgt die Bewegungen des Bogenarms bzw. die Verformung der Wurfarme. Der Schütze verharrt zunächst mit fest geschlossener Bogenhand in Ankerposition, der Helfer drückt leicht von oben auf die Spitze des Monostabilisators. Im Anschluss daran verharrt der Schütze mit offener Bogenhand in Ankerposition, der Helfer drückt wieder leicht von oben auf die Spitze des Monostabilisators.
Im ersten Fall wird sich nur der Bogenarm des Schützen bewegen, im zweiten Fall werden sich zusätzlich die Wurfarme (asymmetrisch) verformen. Beide Versuche verdeutlichen den Einfluss des Bogen-Schwerpunktes bei offener und geschlossener Bogenhand.
Es gilt seit vielen Jahrzehnten als allgemein anerkannt, dass das Schießen mit offener Bogenhand Best Practice im Umfeld des olympischen Recurvebogenschießens ist. Die Erläuterungen in diesem Abschnitt sollen keinesfalls dazu dienen, dies in Frage zu stellen. Sie sollen ausschließlich dazu dienen, ein Verständnis für die Gesamtzusammenhänge zu entwickeln. Im weiteren Verlauf wird daher ausschließlich das Schießen mit offener Bogenhand betrachtet.
Eine Kraft, die (in Blickrichtung des Schützen) vor der Kontaktfläche zwischen Bogenhand und Bogen nach unten wirkt, führt zu einer Drehung des Bogens "nach vorne", d.h. der obere Teil des Bogens bewegt sich vom Schützen weg. Auf Grund dieser Drehung wird der obere Wurfarm stärker ausgelenkt, im Gegenzug entspannt sich der untere Wurfarm.
Die Gewichtskraft des Bogens wirkt im Schwerpunkt des Bogens senkrecht nach unten und auch sie verursacht eine derartige Drehung. Da die Masse des Bogens konstant ist, ist auch die verursachte Drehung konstant - aber sie ist vorhanden. Die Wurfarme werden also durch einen nach vorne verlagerten Schwerpunkt asymmetrisch verformt, was sich auf den (dynamischen) Tiller und damit auch auf das Verhalten des Bogens auswirkt.
Schlussfolgerung 6: Der Bogen-Schwerpunkt sollte (in Schussrichtung) nicht zu weit von der Kontaktfläche zwischen Bogenhand und Bogen entfernt liegen. (Max. 10 cm sind eine gute "Hausmarke" als Obergrenze.)
Die (richtige) Kombination aus statischem Tiller und Nockpunktüberhöhung sorgt für den optimalen/erforderlichen dynamischen Tiller. D.h. Änderungen am Bogen, die den dynamischen Tiller beeinflussen, führen dazu, dass der statische Tiller und/oder die Nockpunktüberhöhung überprüft und ggf. angepasst werden sollten.
Sowohl eine (horizontale) Schwerpunktveränderung als auch eine Veränderung der Gesamtmasse des Systems wirken sich auf den dynamischen Tiller aus, da die Wurfarme durch diesen Eingriff eine veränderte Verformung erfahren.
Schlussfolgerung 7: Nach einer gravierenden (horizontalen) Schwerpunktveränderung sollten Tiller und/oder Nockpunkt überprüft und ggf. angepasst werden. Gleiches gilt für eine gravierende Veränderung der Gesamtmasse.
Im Gegensatz zur horizontalen Schwerpunktlage und der Gesamtmasse hat die vertikale Schwerpunktlage nahezu keinen Einfluss auf das Tuning. Bei ungleichmäßigem Abschussverhalten des Schützen hat sie jedoch einen Einfluss auf das Trefferbild. Ungleichmäßig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es (während der Pfeil vom Bogen beschleunigt wird) entweder zu einem "Schieben" des Bogens nach vorne oder zu einen Nachlassen nach hinten kommt.
"Schieben" nach vorne führt zu Tiefschüssen, wenn der Bogenschwerpunkt sehr tief liegt und zu Hochschüssen, wenn der Bogen-Schwerpunkt sehr hoch liegt. Beim Nachlassen nach hinten verhält es sich genau anders herum.
Die Begründung für dieses Verhalten wurde bereits im Abschnitt Mechanische Grundlagen gegeben: eine Kraft, die am Schwerpunkt vorbei wirkt, führt zu einer Kombination aus Verschiebung und Drehung des beeinflussten Körpers.
Eine Drehung des Bogens führt dazu, dass der Nockpunkt seine Höhe ändert, während der Pfeil beschleunigt wird. Und eine Höhenänderung des Nockpunkts führt zu einer Höhenänderung in der Trefferlage.
Liegt der Schwerpunkt genau in Kraftrichtung, tritt nur eine Verschiebung und keine Drehung auf, d.h. der Nockpunkt ändert seine Höhe auch bei ungleichmäßigem Abschussverhalten nicht.
Schlussfolgerung 8: Der Bogen-Schwerpunkt sollte ungefähr auf der gedachten Linie liegen, die durch Bogenhand und Zughand vorgegeben wird.